The biggest Loser – Anleitung zum Intervallfassten
Wie nimmt man ab, ohne ständig an Kalorien zu denken? Vielleicht, indem man das Essen regelmässig ein paar Stunden aufschiebt – und danach ganz normal reinhaut.
Was macht dick? Da gibt es viele Anwärter. Zucker, natürlich. Trashcarbs, also einfache Kohlenhydrate wie stark raffiniertes Weizenmehl. Weizen allgemein. Kohlenhydrate allgemein. Fett. Rotes Fleisch. Jedes Fleisch. Milchprodukte. Snacks. Weihnachten. Fresssucht. Diäten. Zu wenig Schlaf. Zu wenig Sport. Zu wenige Ballaststoffe. Zu viel Fernsehen. Zu viel Stress. Zu viel Sitzen. Die falschen Darmbakterien. Die falschen Gene. Das falsche Elternhaus. Armut. Reichtum. Vielleicht ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren? Oder waren es doch die Kalorien?
Wie soll man also abnehmen, wenn niemand mehr weiss, wem genau man für den Rettungsring die Schuld in die Schuhe schieben soll? Also behilft man sich mit der alten Formel «weniger Kalorien, mehr Sport» und hofft auf das Beste. Der Vorteil: Die Idee, durch Diäten oder Sport ein Kaloriendefizit herzustellen, ist relativ simpel. Der Nachteil: Sie funktioniert so gut wie nie. Auf den kurzfristigen Gewichtsverlust folgen Hunger, schlechte Laune und der Jo-Jo-Effekt, so dass die Bevölkerung in den Industrienationen jedes Jahr, Zentimeter für Zentimeter, ein kleines bisschen weiter aus dem Leim geht.
Alte Kulturtechnik
Das Scheitern von Diäten sei vollkommen normal, sagt Jason Fung, ein Nierenspezialist aus Toronto. Der 44-Jährige leitet das Intensive Dietery Management Program in Toronto, und obwohl er eigentlich bloss seinen Diabetespatienten helfen wollte, ist er nun zu einer Art Abnehm-Popstar geworden. Mit seinen klaren Argumenten, seinen einfachen Leitlinien und seinem umfassenden Wissen hat er es zu eigenen Fanklubs gebracht.
Seine Klinik hat 250 000 Fans auf Facebook, seine Anhängerinnen (meist sind es Frauen) nennen sich «Fungsters» und feiern in eigenen Foren ihren neuen Lifestyle. Seine Sprechstunde ist bis 2020 ausgebucht, er ist ein gefragter Redner, und sein sehr lesenswerter Bestseller «The Obesity Code» ist gerade als «Die Schlankformel» auf Deutsch erschienen.
Als Nephrologe ist Fung ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für den Status des neuen Abnehmgurus, und er selbst ist viel zu zurückhaltend, um sich in dieser Rolle feiern zu lassen. Trotzdem hat er mit seinen Veröffentlichungen, seinem Intensive Dietary Management Program und seiner Klinik, die sich auf die Behandlung von Diabeteskranken und Fettleberpatienten spezialisiert hat, die Art, wie bisher über Diät gedacht wurde, auf den Kopf gestellt.
Diät-Vorschlag aus Jason Fungs Fundus: Schwarzer Kaffee mit zwei aufgeschäumten Esslöffeln Butter.
Nach zwanzig Jahren in der Nephrologie war Fung frustriert, dass er lediglich die Symptome von Diabetikern und Diabetes-2-Patienten behandeln konnte, aber nicht den ursprünglichen häufigsten Grund ihrer Krankheit: ihr Übergewicht. Er versuchte, die echte Ursache für das Leiden zu finden - und einen Ausweg für Menschen, deren Gewicht ein scheinbar unlösbares gesundheitliches Problem darstellt. Weniger Kalorien, mehr Sport, dieses Motto hat für ihn jedenfalls ausgedient.
«Wenn man weniger Kalorien zu sich nimmt, hofft man, dass der Körper anfängt, Fett zu verbrennen», sagt er, «doch stattdessen passiert leider etwas anderes: Der Körper passt sich an die neuen Gegebenheiten an und spart an andern Stellen, etwa bei der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur.»
Für Jason Fung sind nicht Kalorien die Schuldigen, sondern ein Missverhältnis im Hormonhaushalt - namentlich dem Insulin, also dem Hormon, das für die Speicherung von Fett zuständig ist. «Egal, wem ich Insulin verschreiben würde, egal, wie schlank er ist und wie wenig Kalorien er am Tag verbraucht, dieser Mensch wird zunehmen.»
Zwar ist es normal und überlebenswichtig, dass der Insulinspiegel nach dem Essen ansteigt, schliesslich verwandelt der Körper die Nahrung auf diese Weise in Glukose und versorgt so den Körper mit Energie. Doch wenn das Insulin nicht mehr dazu in der Lage ist, eine übergrosse Menge an Nahrung in Glukose zu verwandeln, dann wird das Essen im nächsten Schritt als Fett in der Leber und am Bauch gespeichert.
Durch andauernde Nahrungseinnahme (sprich: gedankenloses Gemampfe vor dem Bildschirm) und kohlenhydratreiche Nahrung entsteht im schlimmsten Fall eine Insulinresistenz des Körpers, der wiederum mit einer erhöhten Insulinproduktion darauf reagiert. So kommt ein Teufelskreis in Gang, der bei übergewichtigen Menschen dazu führt, dass der Insulinspiegel dauerhaft erhöht ist.
Also überlegte Jason Fung, was man tun könnte, um den Insulinspiegel wieder zu senken. Und er fand eine überraschend einfache und alte Kulturtechnik, um das Problem in den Griff zu kriegen: das Fasten.
Zunehmend konzentrierter
Fasten - das klingt erst einmal weltfern, unangenehm, nach Entbehrung, Hunger, Kopfschmerzen und zweiwöchigen Klinikaufenthalten, bei denen man Tausende von Franken dafür bezahlt, dass man auf trockenen Brötchen herumkaut. Die Wirksamkeit dieser Kuren ist unbestritten - doch wer hat schon die Zeit für so etwas, die geistige Kraft, und wer kann sich das überhaupt leisten? Was ist mit normalen Arbeitnehmern, Eltern und ganz normalen Zuckersüchtigen, die gar nicht erst in die Möglichkeit haben, sich mehrere Wochen in ein essensfreies Umfeld einzuweisen?
Doch Jason Fung hat seinen Patienten kürzere Fastenzeiten verordnet, das sogenannte Intervallfasten. Für ihn ist es ein Weg, den Insulinspiegel wieder zu senken und Insulinresistenzen dauerhaft umzukehren. Die Essenspausen können sechzehn Stunden andauern, andere Modelle umfassen eine Fastenzeit von 20 oder mehr Stunden, ein anderes Modell geht von einer grossen Mahlzeit am Tag oder ein bis zwei Fastentagen pro Woche aus. «Delay, don’t deny», heisst die Devise, und sie unterscheidet sich grundlegend von Diäten. «Wir haben viel zu viel Energie darauf verwendet, zu überlegen, was wir essen. Dabei ist es genau so wichtig zu sehen, wann wir es tun», sagt Fung. «Im Grunde sind sich ja alle Diäten relativ ähnlich, weil wir schon längst wissen, dass man Zucker und stark verarbeitetes Weizenmehl aus dem Essensplan streichen muss. Doch ob man eine Paleo-Ernährung bevorzugt, sich vegetarisch oder vegan ernährt oder alles essen möchte - solange man selber kocht, ist das egal.»
Denn der Insulinspiegel sinkt durch die Essenspause - und dann passiert das, wovon jeder Diät-Kandidat träumt: Der Körper holt sich seine Energie nicht mehr aus der Nahrung oder dem Blutzucker (der Glukose), sondern bricht die Fettreserven an, die wir mit uns herumtragen - er geht in die Ketose. Glukose und Ketose verhalten sich für Jason Fung wie das Geld, das wir im Portemonnaie mit uns herumtragen, und jenes, das wir in der Bank deponiert haben. An letzteres kommt man schwieriger heran, und vor allem rafft man sich erst dann zum Gang zum Automaten auf, wenn das Portemonnaie leer ist.
So ähnlich verhält sich auch der menschliche Organismus: Nur wenn keine Glukose mehr vorhanden ist, kommt die Ketose in Gang. Drei Mahlzeiten und ein bis zwei Snacks am Tag, wie von verschiedenen Ernährungsgesellschaften und Ernährungsberatern empfohlen, führen also in die vollkommen falsche Richtung.
Ebenso in die falsche Richtung führt der Gedanke, dass der Körper ständig mit Nahrung versorgt werden muss, um leistungsfähig zu sein. Das Gegenteil ist der Fall: Längere Essenspausen führen dazu, dass der Körper weniger Energie für die Verdauung aufwenden muss, Entzündungen gehemmt werden und die Konzentration zunimmt. Je länger man fastet, desto stärker sind die positiven Effekte - doch bereits tägliche Essenspausen setzen diese Prozesse in Gang.
Schweinekrusten-Panade
In den Onlineforen werden diese positiven Nebeneffekte euphorisch beschrieben: Ein «Fungster» schreibt, seine Depressionen seien durch das Intervallfasten verschwunden, andere beschreiben, Asthma sei geheilt oder Diabetes 2 überwunden worden. Migräne, Arthritis, Zysten, ja, sogar Tumoren sollen durch das Intervallfasten oder längere Fastenzeiten abgeklungen sein. Eine Frau berichtet, dass Alterswarzen abgefallen seien, eine andere hat mit 56 wieder ihren Zyklus bekommen, fast alle beschreiben eine grössere Fitness und teenagerhafte Energieschübe.
Bei so viel Beifall ist es kein Wunder, dass Jason Fung von Kritikern als unseriös bezeichnet wird, als Quacksalber, der komplexe Krankheiten mit einfachsten Mitteln heilen und nicht eingestehen wolle, dass das intermittierende Fasten einfach eine andere Form der Kalorienreduktion sei. «Genau das ist es ja eben nicht», widerspricht Jason Fung, «selbst wenn man wenig isst, erhält der Körper seine Energie weiterhin aus der Glukose. So bleiben diese Menschen auch konstant hungrig, während hingegen Menschen, die fasten, den Hunger in Wellen erleben, der nach einer Weile wieder vergeht. Menschen, die Diät machen, frieren oft, fühlen sich schlapp und elend, während hingegen Menschen, die fasten, in die Ketose kommen, ihre Energie aus ihrem Körperfett beziehen und sich dann besonders energiegeladen fühlen. Es sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse, die im Körper stattfinden.»
Um die Ketose, also den Fettverbrennungsprozess, zusätzlich anzukurbeln, empfiehlt Jason Fung stark übergewichtigen Patienten die ketogene Diät: eine Ernährungsweise, die den Körper dabei unterstützt, seine Energie aus Fett zu beziehen. Dies geht am besten, in dem man sich möglichst fettreich ernährt. Kohlenhydrate raus, Fett rein, lautet die Diät von Jason Fung, der seinen Patienten auch den berüchtigten «Bulletproof Coffee» vorschlägt: schwarzer Kaffee mit zwei aufgeschäumten Esslöffeln Butter. Ebenfalls im Repertoire: Schweinebauch, Hähnchen in Schweinekrusten-Panade, frittierte Avocado.
Fett als Waffe gegen den Wanst - die Keto-Diät ist das Gegenteil von dem, was uns Ernährungsgesellschaften mit ihrer Essenspyramide beigebracht haben. Trotzdem wird die ketogene Diät in der Therapie von schweren Krankheiten wie bei multipler Sklerose oder um Krebs eingesetzt - und zwar nicht von Heilpraktikern, Aluhutträgern oder New-Age-Scharlatanen, sondern renommierten Kliniken und Universitäten wie dem Kinderspital Zürich, der Harvard Medical School oder der Charité in Berlin.
Doch wenn Intervallfasten - ob mit oder ohne ketogener Diät - so ungemein hilfreich beim Abnehmen ist, das Wohlbefinden steigert und bei der Heilung von Zivilisationskrankheiten hilft, warum hat sich das bisher nicht herumgesprochen? Und warum hoffen wir noch immer darauf, mit weniger Kalorien und mehr Sport endlich zum Traumbody zu kommen, wo wir doch schon längst wissen, dass weder die müffelnde Kohlsuppe noch eine Proteindiät irgendwie dauerhaft anwendbar oder effektiv ist?
Möglicherweise liegt es daran, dass Übergewicht in der Schweiz kein Problem ist (die Schweizer Frauen gelten als die dünnsten Europäerinnen). Doch der Grund könnte noch woanders liegen, vermutet Jason Fung. «Vermutlich liegt es daran, dass niemand ein finanzielles Interesse daran hat, diese Form von Gewichtsverlust und Gesundheitsfürsorge zu bewerben», sagt er, «mit Intervallfasten ist nämlich kein Geld zu verdienen, ganz im Gegensatz zu Frühstücksmüesli, Proteinshakes und Pausensnacks.»
Doch mittlerweile werde das intermittierende Fasten auch in Europa entdeckt, sagt Professor Kuno Hottenrott, Präsident der Vereinigung der deutschen Sportwissenschafter, der Studien zum Thema Intervallfasten in Kombination mit Sport durchgeführt und einen Ratgeber dazu veröffentlicht hat («Das LIF-Prinzip»). Seine Teilnehmer haben nicht nur kurzfristig Gewicht verloren, sondern dieses auch nach einem Jahr noch gehalten. «Allerdings waren es jene, die am Intervallfasten festgehalten haben», sagt er.
Kombi mit Ausdauersport
Für Hottenrott ist Intervallfasten in Kombination mit Ausdauersport der effektivste Weg, um sein Gewicht zu senken oder es zu halten. Und der einfachste dazu: «Das Schöne am intermittierenden Fasten ist doch, dass jeder es an seinen Lebensstil anpassen kann», sagt er. «Man muss noch nicht einmal besonders kochen, ein Nahrungsmittel weglassen oder strengen Diätplänen folgen. Und wenn man abends eingeladen ist, dann legt man die Essensphase eben um oder fastet am nächsten Tag länger.» Diese Phasen ohne Essen seien kein Problem für unseren Körper, im Gegenteil, sagt er: «Wir sind dazu gemacht phasenweise ohne Essen auszukommen.»
Auch Jason Fung sieht Intervallfasten weniger als Diät denn als Lebensstil, den jeder passend auf seine Bedürfnisse anwenden kann. «Es geht mir nicht darum, dass Menschen zu ihrer Bikinifigur kommen», sagt er, «ich möchte damit auch nicht reich werden. Mein Wissen ist im Netz frei zugänglich, denn ich möchte einfach nur übergewichtigen Menschen dabei helfen, wieder gesund zu werden. Intervallfasten ist nicht nur gut für den Körper, es ist eine Möglichkeit, endlich wieder Kontrolle über seine Essgewohnheiten zu bekommen.»