Die ewige Vorbildhaltung nervt
Süddeutsche Zeitung, 14. April 2018
Seit sie stets einen Fahrradhelm trägt, wird unsere Autorin von anderen Müttern gelobt. Warum ausgerechnet dafür? Eine Abrechnung.
Von allen hässlichen Dingen auf der Welt, um es mit Oscar Wilde zu sagen, sind Fahrradhelme wohl das hässlichste (Wilde sprach von Kunstblumen, aber im Viktorianischen England gab es eben noch keine Sicherheitsausrüstung für Hobby-Fahrradfahrer). Ich habe mir dennoch einen Helm gekauft, allem inneren Widerstand zum Trotz. Denn nachdem ein SUV einem Freund die Vorfahrt genommen hat, konnten wir alle froh sein, dass er erstens noch lebt und zweitens noch denken kann. Dass hat er einzig seinem Helm zu verdanken, darum ist die Zeit der Ausreden nun für immer vorbei, egal, wie schwer es mir fällt. Denn ein Fahrradhelm ist nicht nur hässlich, er symbolisiert für mich auch das Ende einer Fahrradkultur, die doch eigentlich etwas mit Leichtigkeit, Freiheit und Fahrtwind in den Haaren zu tun haben sollte, mit dem Urvertrauen in eine Menschheit, die mir nicht die nächste Autotür ins Gesicht knallen wird.
Nun habe ich also eine Art goldenen Rollerhelm, der mich eine menschliche Kanonenkugel verwandelt. Gold, weil ich nach dem Prinzip der Schadensbegrenzung nach einem Modell gesucht habe, das nicht nach Endstation Muddi-Look aussieht. Es ist es eine Mischung aus Wahnsinn und Vernunft, oder, wie mein Mann es nennt: „Du bist auf jeden Fall nicht mehr zu übersehen.“
Auch von anderer Seite kriege ich für meinen goldenen Helm viel Lob, besonders von den anderen Eltern in der Kita: Ich bin jetzt nämlich ein Vorbild. Für die Kinder. Ich bin empört – das fällt denen erst jetzt auf? Da müht man sich seit Jahren damit ab, Kinder, Karriere und Netflix unter einen Hut zu kriegen, und wofür wird man von seiner Peer Group gelobt? Den Fahrradhelm.
Mich erinnert meine neue Vorbildfunktion an die Schwachsinndiskussion um das Serien-Schwein Peppa Wutz. Eine Mutter hatte sich beschwert, dass das Peppa in der ersten Staffel keinen Fahrradhelm trug, darum musste Nickelodeon alle 10 993 Milliarden Folgen nachbearbeiten – neun Monate lang wurde nachträgliche Fahrradhelme in die Serie hineindigitalisiert. Nun ist Peppa the Pig ein Helm-Vorbild. Genau wie ich.
Allein das zeigt doch die Absurdität der Vorbildidee: Da legen wir es darauf an, Kindern kritisches Denken beizubringen – und gehen gleichzeitig davon aus, dass nur eine allumfassende Koalition aus regelkonformen Eltern, Freunden und einem dämlichen Schwein dazu in der Lage ist, sie auf den richtigen Weg zu bringen.
Es wäre doch tragisch, wenn ich meinen Kindern den Helm nur vermitteln könnte, indem ich selber einen trage – wozu gibt denn so etwas wie elterliche Autorität und die Magie des Machtwortes? Die Sphären zwischen Kindern und Erwachsenen haben sich zwar aufgeweicht, und das ist ja auch schön – aber das ist noch lange kein Grund, ihre Bedürfnisse als die einzig maßgebliche familiäre Maßeinheit zu betrachten. Meine Kinder können ruhig lernen, dass ihre Welt eine andere ist als die ihrer Eltern – auch aus Selbstschutz: Sonst sitzen wir bald wirklich alle auf Zwergenstühlen im Kinderhotel und gucken Peppa the Pig. Die Existenz der Erwachsenen, sie muss doch noch ein paar Privilegien, Abgründe und verschlossene Türen haben, sonst wären Fahrdienste, Elternabende und Kindergeburtstage überhaupt nicht mehr ertragen.
Ich glaube ohnehin nicht, dass sich irgendwer einen Gefallen tut, wenn er es darauf anlegt, ein Vorbild sein zu wollen – das ist doch ein genau so großer Selbstbetrug, wie absichtlich glücklich sein zu wollen. Denn man es zwanghaft darauf anlegt, lauern neurotische Selbstbeobachtung und Getue doch direkt hinter der nächsten Ecke. Denn sowohl glückliche als auch vorbildliche Menschen sind das doch nur aus einer inneren Haltung heraus, beides ist eine Nebenwirkung ihrer Entscheidungen, kein Selbstzweck. Und möchte man sein Leben wirklich unter dem Diktat der Vernunft (oder ihrer garstigen kleinen Schwester, der Effizienz) betrachten? Ich glaube ja, dass das die Direktverbindung in die Selbstoptimierungshölle ist, aber vielleicht bin ich einfach nur ein bisschen faul.
Ohnehin, warum sollen eigentlich nur Frauen als Vorbild für irgendetwas herhalten, eine Allegorie für einen Wert, ein Prinzip oder eine Tugend, die gerade angesagt ist? Weibliche Statuen repräsentieren mehrheitlich den Frühling, den Sieg oder die Tapferkeit. Männliche Denkmäler repräsentieren, tja, lieber sich selbst: Feldherren, Politiker, Künstler. Ich jedenfalls möchte nicht als Symbolbild für irgendetwas durch das Leben gehen, das klingt für mich wirklich nach Sozialkontrolle und Fahrradhelm.
Die allumfassende Vorbildfunktion gegenüber Kindern ist für mich jedenfalls eine Dystopie, eine Zwangsjacke der Tugend, maßgeschneidert für gestresste Mütter. Mag ja sein, dass Vorsicht der Topseller im Kanon der angesagten Werte ist – aber manchmal verstehe ich das Kopfschütteln der jetzigen Großmütter, die sich angesichts der aktuellen Kindererziehung fragen, warum wir es uns nicht ein kleines bisschen leichter machen. Für sie waren Autogurte allenfalls eine Option, Frosties ein gesundes Frühstück und Rauchen nichts, wofür man sich auf dem Balkon hätte verstecken müssen. Wir hingegen glauben, dass man als Mutter oder Vater eine Spitzenperformance hinlegen muss, weil sonst der Tod oder zumindest der soziale Abstieg droht.
Meine Kinder können mich ja gerne bewundern, aber dann bitte für die richtigen Sachen. Da findet man sicher etwas, was über den Helm hinausgeht. Außerdem lernen sie aus meinen Schwächen ohnehin viel mehr: nämlich dass Menschen komplexe und widersprüchliche Wesen sind, dass das Nur-Gute eine Fiktion ist und dass man das Richtige und das Falsche zugleich tun kann, ohne menschlich sofort durchzufallen. Idealerweise lernen sie, das Liebe nicht nur bedeutet, jemanden für seine Stärken zu bewundern, sondern auch, dessen Schwächen zu ertragen. Gut, das ist auch schon eine Herausforderung für Erwachsene – aber wenn ich meinen Kindern etwas beibringen kann, dann wenigstens die richtigen Sachen.