Mary Poppins kehrt zurück
Es gibt Weihnachtsfilme, auf die springen Kinder von alleine an – in der Regel alles, was animiert ist, schnell geschnittenen Krach beinhaltet und als Franchise-Figuren wie die Minions oder Spider-Man im Happy Meal erhältlich ist. Und es gibt Weihnachtsfilme, die sich darauf verlassen, dass Eltern sich an die Helden ihrer Vergangenheit erinnern und sich gleichzeitig geschmackssichere Unterhaltung für ihre Kinder wünschen. Am besten aus echten Büchern und einer Ära, in der es weder Internet noch Artensterben gab, sprich: die gute alte Zeit.
Nostalgie ist eben nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Geschäftsmodell – und die Feiertage, das darf man nicht vergessen, sind auch der Moment der unerträglich vielen gemeinsamen Familienfreizeit. Deshalb begegnet man edem Dezember einem neuen Ensemble aus literarischen Figuren, die im Kino Jung und Alt bei Laune halten sollen: Dieses Jahr sind es der Nussknacker, der Grinch und Mary Poppins.
Angesichts des Disney’schen Recyclingfurors – 2019 laufen die Remakes von Dumbo, Lion King und Aladdin an –, wundert es, dass es 54 Jahre gedauert hat, um ein Sequel von Mary Poppins zu drehen. Schliesslich wurde das Fantasy-Musical aus dem Jahr 1964 mit fünf Oscars ausgezeichnet und gilt als der Höhepunkt von Walt Disneys Werk.
Die Fallhöhe für ein Remake ist allerdings immens, die Blamagegefahr hoch: „Mary Poppins“ ist nicht „102 Dalmatiner“, den man getrost versemmeln kann, weil ohnehin niemand mehr an dem Original hängt. Mary Poppinshingegen ist ein Teil des kollektiven Gedächtnisses der Generation 40plus. Doch Regisseur Rob Marshall hat die Vorlage pfleglich behandelt und sie nun frisch poliert ins Kino gebracht – und, ja, es gibt auch tanzende Pinguine.
Die Vorkriegskulisse jedenfalls eignet sich hervorragend, um nostalgische Sehnsüchte der heutigen Elterngeneration aufleben zu lassen: Darum ist es ideal, dass „Mary Poppins Returns“ in einer historisch unverankerten Parallelwelt spielt, in der Autos nicht die Strassen verstopfen, sondern Automobile genannt werden und Seltenheitswert haben. Ähnlich wie bei „Paddington“, dem Qualitätsweihnachtsfilm des vergangenen Jahres, wird auch hier ein Setting erschaffen, in dem Männer Westen und Pullunder tragen, kein Plastik die patinabehafteten Häuser verschandelt und Weihnachtsmärkte vorzugsweise aus holzgeschnitzten Karussellen, Kleinkunsttheatern und Ständen mit Liebesäpfeln bestehen.
„Mary Poppins Returns“ spielt in jener Ruhe ausstrahlenden Zeit statt, in der Kinder Kopfbedeckungen, kleine Jacketts und hochgezogene Strümpfe tragen. Man muss sie nicht von ihren Touchscreens wegmeisseln, stattdessen helfen sie widerstandslos im Haushalt mit. Verstärkt wird der nostalgische Effekt durch die künstlerische Gestaltung des Films: Cartoons kommen einem nicht durch 4-D-Optik ins Gesicht gezischt, stattdessen knüpft der Film mit handgemalten 2-Animationen an das Flair des Originals an; sogar Dick van Dyke, damals Kaminkehrer Bert, hat mit 92 Jahren einen Auftritt als steppender Bankdirektor.
Dieser Trickfilm-Weltentwurf pflegt denselben Kulturkonservatismus, von dem auch Manufactum lebt, ein Haushaltwaren-, respektive Lifestylegeschäft, das vor Weihnachten derart verstopft ist, als hinge das Glück der Menschheit davon ab, einen original Eiermann-Kinderschreibtisch für 500 Franken zu ergattern. Gutes von gestern, es war noch nie so superkalifragilistisch.
Diesmal gleitet Mary Poppins (Emily Blunt) auf einem Drachen in das Leben ihrer ehemaligen Schützlinge. Es ist ein erster Hinweis darauf, wie eng der zweite Film mit dem ersten verwoben ist, denn im ersten Film war er noch ein Symbol für den geläuterten Vater, der von nun lieber Zeit mit seinen Kinder als mit seiner Arbeit verbringen möchte.
Doch im zweiten Film ist von dieser Unbeschwertheit wenig übrig: Er spielt im London der Dreissigerjahre, in Europa herrscht Wirtschaftskrise und Jane und Michael Banks (Emily Mortimer und Ben Whishaw) haben sich zu zwei höchst lebensunfähigen Erwachsenen entwickelt. Michael lebt mit seinen drei Kindern im altbekannten Haus im Kirschbaumweg, seine Frau ist verstorben. Als Witwer und alleinerziehender Vater gibt er eine traurige Figur ab: er kann weder die kinnlangen, glatten Haare seiner Tochter Annabel (Pixie Davies) bürsten, noch hat er die Finanzen im Griff, hat doch beides seine verstorbene Frau erledigt. Stattdessen hat er eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, die er erst „vergessen“ hat, und die ihm nun um die Ohren fliegt: Wenn er diese nicht innerhalb weniger Tage zurückzahlt, wird ihm und den Kindern das Haus unter dem Hintern weggepfändet.
Regisseur Rob Marshall sagte, er habe den Zeitpunkt der Wirtschaftskrise gewählt, um die Parallelen zwischen den wirtschaftlichen Turbulenzen von damals und dem Klima der Instabilität von heute aufzuzeigen: „Ich denke, dass wir in sehr dunklen Zeiten leben“, sagt er. Stattdessen wolle er mit „Mary Poppins Rückkehr“ ein Zeichen der Hoffnung setzen. Ähnlich argumentierte auch Emily Blunt: „Wir leben in einer gespaltenen Welt“ sagte sie. „Der Film könnte die Menschen vielleicht wieder zusammenbringen.“ Gespaltene Gesellschaft, Hoffnung aus den Wolken – das darf getrost als PR-Poesie abgetan werden. Der Film braucht diese Überhöhung auch gar nicht, hat doch Disney einen viel zeitgemässeren Konflikt in den Film gepackt: die Urangst der Städter, dass ihr Heim von Investoren weggentrifiziert wird. Denn wenn Normalität prekär wird, wenn der Kampf ums Zuhause mit ungleichen Waffen geführt wird, dann befindet man sich ja ganz schnell auf den grossen Schlachtfeldern der Gegenwart. Colin Firth gibt als Banker die Hassfigur des Moments ab: der raffgierige Investor, der sich die Villa an bester Lage unter den Nagel reissen möchte, auch wenn damit eine Familie ihrer Heimat beraubt wird – das eine Geschichte, die man sich in London, Paris, Genf, Berlin und Amsterdam jeden Tag erzählt.
Auch Michael Banks repräsentiert einen höchst aktuellen Menschenschlag: Er ist der Prototyp des freundlichen, aber lebensfernen Erben, der vor den Resten seines grossbürgerlichen Lebens sitzt. Als malernder Bankangestellter in Teilzeit hat er wenig Aussicht darauf, seine Schulden selber abarbeiten zu können, doch das macht nichts: Stattdessen erinnert er sich dunkel daran, dass zu dem Erbe eben nicht nur das Anwesen gehört, sondern auch Aktienanteile an der Bank, die ihm gerade das Leben zur Hölle macht. Leider kennt er weder den Wert noch den Aufenthaltsort seines restlichen Vermögens, er hat die Unterlagen irgendwo auf seinem Messie-Dachboden zwischen den Golfschlägern und zerborstenen Schneekugeln verschusselt. Und auch Schwester Jane, in Finanzdingen ähnlich unbedarft, ist keine Hilfe. Dass sie sich ironischerweise für die Rechte der Arbeiter einsetzt, hauptsächlich dadurch, dass sie Plakate an Holzstecken mit sich herumträgt, stellt für sie keinerlei Widerspruch zu ihrem Kampf um die Aktienanteile dar. Das ist so doof, dass es fast wehtut, aber auf perfide Weise auch ein Spiegelbild der heutigen Lohas, die mit dem SUV zum Bioladen fahren, um mit dem Kauf von grasgefüttertem Rindfleischs das Klima zu retten.
Erwachsene spielen in Kinderfilmen zwar häufig die Rolle der dysfunktionalen Idioten –
man erinnere sich an „Home Alone“ als die McCallisters einen halben Tag, einen Flughafen-Check-in und zwei Stunden im Transatlantikflug brauchten, um festzustellen, dass sie ihr Kind auf dem Speicher vergessen hatten – , doch ahnungsloser und weltfremder als in „Mary Poppins Returns“ hat man ein Elternmilieu noch nie porträtiert. Es braucht also einer Wunderfrau mit magischen Kräften, welche die Mischung aus Weltunglück und persönlichem Drama wieder geradebiegt: „Ich komme, um die Banks-Kinder zu versorgen“, sagt sie, als sie nach ihrer Landung im Wohnzimmer der Banks die Unordnung inspiziert. „Also zu uns?“ entgegnen die Kinder. „Ja, zu euch auch“, sagt Poppins beiläufig, und, aua, das sitzt natürlich.
Emily Blunt hat sich bei ihrer Darstellung der Mary Poppins wieder an die Buchvorlage angenähert, in der die Nanny neben all ihrer Magie auch schnippisch, kühl und eitel ist. Walt Disney hatte der Version von 1964 die Bitterstoffe entzogen und vor allem auf den süssen Charme von Julie Andrews gesetzt. Damit hat er zwar die Autorin Pamela Lynwood Travers, Poppins Urheberin, in den Wahnsinn getrieben, gleichzeitig scheint „Killing with Kindness“ auch der richtige Ansatz, um einen aufgeblasenen Tyrannenvater der Vergangenheit auf umgängliches Normalmass zu schrumpfen.
Emily Blunts Poppins jedoch hat andere Schlachten zu schlagen, sie steht keinem Patriarchen, sondern einem entmutigten Mann-Kind gegenüber, das kurzerhand miterzogen werden muss: „Mund zu, Michael“, ruft Poppins ihm zur Begrüssung zu, „das hast du als Kind schon immer gemacht“.
Die mutterlosen Kinder sind das Leitmotiv der meisten Disney-Filme – Bambi, Schneewittchen, Aschenputtel, Beauty and the Beast – , und auch Mary Poppins‘ eigentliche Aufgabe besteht darin, der unglücklichen Familie dabei zu helfen, sich selber zu heilen: So mag der Umzug – und Abstieg – der Banks schon feststehen, doch die Wende zum Guten hat bereits stattgefunden: Michael Banks entwickelt genug Rückgrat, um seinen Kindern die Liebe und Wärme zu geben, um sich auch mutterlos als Familie zu fühlen. 1964 musste der Patriarch von der Nanny, damals noch Kinderschwester genannt, lernen, dass er seine Prinzipien der Ökonomie, Disziplin und Pflichterfüllung nicht auf seine Kinder übertragen konnte – es ist der Drachen, den er gemeinsam mit seinen Kindern steigen lässt, an dem Mary Poppins jetzt zurückkehrt.
Die Katharsis gehört zum Weihnachtsfilm wie der Glühwein zum Christkindlmarkt: der Effekt ist vorhersehbar, aber ohne geht es eben auch nicht – einmal im Jahr muss man eben zimtsternhagelvoll nach Hause wanken. Es ist die Rückbesinnung auf die grossen, einfachen, wahren Werte, die selbst den Weihnachtshasser Grinch in einen vorbildlichen Gast im Motivpulli verwandeln: die Sehnsucht nach Familie, Geborgenheit und Liebe, die das Herz jedes Jahr, Konsum und Wahnsinn zum Trotz, eben doch um einige Zentimeter weitet. Wer diesen Spirit nach dem Kinobesuch nicht spürt, der muss eine Seele aus Trockeneis haben. Kinder, die ja naturgemäss noch nichts mit Sentimentalität anfangen können, dürften diese Tradition zwar weniger berühren, aber gut, sie zahlen ja auch nicht das Kinoticket.
Der Kinderfaktor des Filmes ist glücklicherweise so hoch, dass vor lauter Aufregung gar nicht mitkriegen werden, dass er eigentlich für ihre Eltern gedacht ist. Mary Poppins und Jack entführen sie zuverlässig in die Zauberwelt, die ja die Besonderheit der Erzählung ausmacht.
Diesmal verbirgt sie sich in der Badewanne, in einer Porzellanschüssel und bei einem Spaziergang durch Londons Untergrund. Hinter der Oberfläche des Alltags wartet das Universum der Abenteuer, und in diesen Szenen können Emily Blunt und ihr vielfach ausgezeichneter Ko-Star Lin-Manuel Miranda ihr Können beweisen; Mirandas Broadway-Wurzeln machen ihn dabei zu einem würdevollen Nachfolger von Dick van Dykes Bert und lassen ihn gerade in die A-Liga Hollywoods aufsteigen; im Film fliegt er sprichwörtlich durch die Luft, um dort Topsy alias Meryl Streep vorzufinden. Blunt und Miranda singen, tanzen, sie wirbeln mit Blumen, Fischen durch die animierten Welten, entkommen nur knapp Entführung und Tod – es ist eine Feier der Fantasie und eine Hommage an das Original. Und die Zuschauer können beruhigt nach dem Popcorn greifen: wenn schon die Kinder die Sehnsucht ihrer Eltern nach einer durchstilisierten Weihnachtszeit nicht erfüllen, dann tut es wenigstens dieser Film.
Nosta