Auf die harte Tour
Skitouren: Was lange absurd erschien, ist heute in Mode: den verdammten Berg einfach selbst raufzulaufen
„Champagne Powder!“, ruft Christian Stangl und wirft eine Handvoll trockenen Schnee in die Luft, die Flocken flimmern sanft durch das bläuliche Januarlicht, tief verschneite Tannen auf 1000 Höhenmetern. Der 52-Jährige Bergführer ist ein Mann, der nachts von Schnee träumt, der ihn morgens barfuss und in Unterhose wegschaufelt und am liebsten in die Antarktis reist: kurz, ein Schnee-Mann, ein Schnee-Freak, Schnee-Sommelier. Vor allem aber ist Christian Stangl einer der grössten Alpinisten Österreichs, der die höchsten Gipfel der Welt bestieg, erst auf Zeit als Skyrunner, dann als sorgfältiger Gipfelvermesser.
Vielleicht kann man das psychoanalytisch erklären, sagt er, graue Haare, Husky-Augen, ein Muskelgebirge mit einer ruhigen Stimme, er sei mitten im Hochsommer auf die Welt gekommen. Im Hause seiner Eltern, abgeschieden im Gesäuse-Gebirge, ohne Arzt und ohne Krankenhaus, einer der heissesten Tage des Jahres. Vielleicht war ihm das zu viel und seither ist er auf der Suche nach Kälte und Schnee. Schon als kleiner Junge war in den Bergen unterwegs, erst mit seinem Vater, mit vierzehn Jahren allein, sehr zur Freude seiner Mutter. Er ist die Umgebung abgeklettert, hat immer weitere Kreise gezogen, rauf auf alle Berge des Gesäuses. Sein Körper wurde immer stärker, seine Bewegungen immer schneller und er merkte, dass er ein seltenes Talent hat: „Ich vertrage sauerstoffarme Luft gut“. Und so ist er zum Alpinisten geworden, einer, der nicht nur überall raufmusste, sondern das Ganze auch noch in Rekordzeit schaffen wollte. Die drei höchsten Berge jedes Kontinents hat er bestiegen, Rekorde dabei aufgestellt. Er kam immer heil rauf und heil wieder runter, er hatte Glück, während neben ihm die Kollegen tödlich verunfallten; nur einmal ist er abgestürzt, jedoch nicht vom Berg, sondern durch eine Trickserei, doch das ist eine andere Geschichte.
Darum kennt Christian Stangl die Berge und die Menschen, den Schnee und die Gefahr so gut wie kaum ein anderer. Im Grunde ist er überqualifiziert, um ein Basecamp für halbtrainierte Hobbysportler wie uns zu leiten, uns in die Unterschiede von Triebschnee, Schwimmschnee und Firnschee einzuweihen. Doch jetzt tritt Stangl seine nächste Mission an, nämlich der Welt zu vermitteln, dass sanfter Tourismus in der Steiermark nicht nur möglich, sondern auch wunderschön ist.
Die Steiermark hat der Welt zwar die Erste Allgemeine Verunsicherung, Kürbiskernöl und Arnold geschenkt, doch irgendwie die Vollkommerzialisierung seiner Berge verschlafen, als es darum ging, beheizte Achter-Skilifte, Hüttengaudi und fancy Zirbenholzhotels mit Bergkräuterspa anzusiedeln. Zwar gibt es einige grosse Skigebiete, aber auch Orte wie Admont, wo es gerade neun kleine Lifte gibt. Stattdessen hat Admont unberührte Natur, 2000 Einwohner und fünf Wirtshäuser zu bieten. Man kann im Gasthaus Kamper eine sehr, sehr gute Frittatensuppe für drei Euro fünfzig (also knapp vier Franken) essen, oder zum Pirafelner gehen, wo neben dem Schnitzel mit Kürbiskernpanade auch noch Toast Hawaii auf der Karte steht.
So aus der Zeit gefallen ist die Obersteiermark eben doch unabsichtlich im Trend. Denn unberührte Natur und ein bezahlbares Qualitätsschnitzel sind gerade bei Menschen gefragt, die gerne Ski fahren, aber eben keinen Pistenzirkus wollen, die Ruhe suchen und bei Hansi Hinterseers Musik Zahnschmerzen kriegen. Menschen, deren Liebe zur Natur eben nicht nur eine Behauptung ist, sondern eben auch Absage an künstlich beschneite Pisten, überstrapazierte Berge und eine Landschaft, die nach dem Winter so versehrt ist, dass man im Sommer dort nicht wandern mag.
Volle Pisten, Menschen, die unkontrolliert mit 80 Stundenkilometern die Pisten runterbrettern und Mondpreise für Liftkarten haben ein Übriges dafür getan, dass es nun einen Skitouren-Boom gibt, allein in Österreich sollen eine halbe Million Tourengeher unterwegs sein. Was lange absurd erschien, ist heute in Mode – den verdammten Berg einfach selbst raufzulaufen. Es ist eine Art Manufactumversion des Alpinskifahrens, Abteilung „Gutes von gestern“. Und doch ist sind Skitouren so nah am Zeitgeist, wie kaum eine andere Sportart: eine Mischung aus Meditation und Spiel mit der Schmerzgrenze; raus aus der Komfortzone, rein in den Schnee, rauf auf den Berg. Und sobald man auf den befellten Skiern durch die Spur gleitet, an Fichten vorbei, durch die Stille, die klare, kalte Luft einatmet, das Herz spürt, das die Wärme durch den Körper pumpt und einen so aufheizt, dass man bei Minusgraden Jacke und Handschuhe ausziehen muss, dann versteht man, wie magisch es ist, wenn man den Berg auf die harte Tour erobert. Für eine Freizeitbeschäftigung fühlt es sich sehr heroisch an.
Man braucht einen Sinn für Sportarten wie Joggen, Wandern oder Langlauf und man muss damit klarkommen, dass Abfahrt im Tiefschnee etwas anders ist als auf einer gesicherten Piste. Aber das Kürbiskernschnitzel, es schmeckt nach so einer Tour einfach noch einmal so gut: der Gedanke, sich sein Essen verdient zu haben, mag zwar eine elegante Fiktion sein, aber eine sehr mächtige – wer ohne Lift auskommt, der hat eben doch etwas geleistet; Skitouren zu gehen ein protestantisches Vergnügen, durch und durch.
Neben den sportlichen Herausforderungen wären dann eben noch die Unwägbarkeit der Natur, des Winters, des Wetters. Denn abseits der Piste steigt zwar die Schönheit und die Ruhe rapide an, aber leider auch die Gefahr, in eine Lawine hineinzugeraten. Admont ist dieser Tage so verschneit, dass die Nachbardörfer schon abgeschnitten sind, anderthalb Meter Schnee sind gefallen, die Bergrettung ist mit ihrem Helikopter im Dauereinsatz. Diese Stille wäre schön, würden nicht täglich Todesnachrichten aus den Nachbargebieten in das Dorf hineingespült. Vier Tote an drei Tagen: ein Skilehrer, der von der Piste abkam und kopfüber in den Tiefschnee stürzte, niemand konnte ihn befreien. Ein 16-Jähriger Snowboarder, der ahnungslos die Piste verlassen hat; zwei Förster auf Schneeschuhen am Berg. Der Schnee fordert Opfer, wenn es an Wissen und Respekt vor ihm fehlt.
Und hier setzen die Kurse im Basecamp an: Christian Stangl erklärt „die fünf Zutaten für eine Lawine“, ein Rezept, dass wir am Ende des Camps im Schlaf aufsagen können: eine Hangneigung über 30 Grad, Wind, eine grossflächige Schwachschicht, ein kritisches Gleichgewicht zwischen Spannung und Festigkeit der gebundenen Schneeschichten, und obendrauf ein mechanischer Auslöser, also wir. Wir lernen den Einsatz des Lawinenverschüttetensuchgeräts, Sonde und Schaufel, wir suchen im Schnee nach versteckten Taschen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie hart es ist, einen Menschen rechtzeitig aus einer Lawine zu bergen. Denn selbst wenn man ihn findet, so die Erstickungsgefahr nur ein Problem, die mechanische Gefahr durch Zerquetschen eine andere. „Es gibt eine rote Linie, und die sollte nie überquert werden“, sagt Christian Stangl, „das oberste Ziel muss sein, dass man überhaupt gar keine Lawine auslöst“.
Da mittlerweile Lawinenwarnstufe fünf herrscht, werden die Schneetouren stark verkürzt; Christian Stangl fehlt jeglicher Ehrgeiz, seine Gruppe irgendeinem Risiko auszusetzen, schliesslich hat er seine männliche Bewährungssehnsucht schon auf diversen 7000ern ausgelebt. Wir lernen stattdessen, Wanderkarten richtig zu lesen, Routen zu planen, Gefahren schon auf dem Papier zu erkennen. Wie liest man einen Lawinenlagebericht, was muss ich über den Schneedeckenaufbau wissen und welcher Wetterdienst ist der Beste? Pro-Tipp von Christian Stangl: es sind die Norweger auf www.yr.no.
Stattdessen lernen wir das Überleben in der Kälte: Stangl ist der Meinung, jeder Tourengeher müsse wissen, wie man sich einen Unterschlupf baut, wenn das Wetter wechselt und man sein Tourenziel nicht mehr bei Tageslicht erreicht. Was bis vor einem Tag noch wie die absurdeste aller Freizeitbeschäftigungen klang, ist nun eine Aufgabe, die zu bewältigen es gilt: Eine Höhle in den Schnee graben, Sitzbänke hineinhauen, ein Dach aus Skiern, zwei Biwaksäcken bauen und mit Schneeziegeln fixieren. Zu sechst hocken wir in unserem Schneeloch, ich schlucke meine Erstickungsängste herunter („Die Kleinsten zuerst“) und krieche hinein. Gemütlich warm in unserem Schnelliglu zwar nicht, aber zum Überleben in Skikleidung reicht es, sagt Christian Stangl. Er muss es ja wissen, schliesslich hat er schon mal vier Tage und vier Nächte in einem Ein-Mann-Schneeloch im Pamirgebirge an der Grenze von China zu Kirgisistan verbracht. Ob ich der Natur wirklich so nahe kommen möchte? Wohl eher nicht. Aber zu erfahren, wie Schnee Todesgefahr und Schutz, Spass und Angst, Freund und Gegner, ein weiches Kissen und eiskalter Sog zugleich sein kann, ist faszinierend: „Nicht gegen den Schnee, mit dem Schnee!“ ruft Christian Stangl mir zu, als ich im Gelände mit Nase voran in den Champagner Powder kippe und versuche, mich mit Schwimmbewegungen zurück auf meine Skier zu manövrieren.
Der Nationalpark Gesäuse mit seiner smaragdgrünen Enns, den gewaltigen Steinformationen, den hochaufragenden Felswänden, den Steinadlern und den Gämsen, das bleibt für unseren Aufenthalt hinter einer Wand aus Nebel und Schneefall verborgen. Das Wetter hat die Landschaft verschluckt, wir gleiten im fargo-haften, allumfassend weissen Nichts. Befände sich neben unserem Basecamp kein Naturpark, sondern ein Kernkraftwerk und ein Lidl-Parkplatz, so würden wir es auch nicht mitkriegen. Schade, wo doch die Natur eigentlich die Hauptrolle bei der Tour spielen sollte – und vielleicht ein Grund, im Sommer noch einmal in die Steiermark zu fahren. Ins Basecamp Fliegenfischen, den Fluss kennenlernen – vermutlich schmeckt auch ein Fisch besser, wenn man ihn erst verstanden und dann selber gefangen hat; Leben und Tod liegen im Gesäuse eben auch im Sommer beieinander.
Übernachtung: Landgasthof Kölblwirt in Johnsbach, Einzelzimmer mit Frühstück um die 55 Franken
Essen: Gasthaus Kamper, gh-kamper.at
Basecamp: 300 Franken ohne Übernachtung, 680 Franken mit Übernachtung im ****-Hotel Spiridom; mehr Infos unter www.gesaeuse.at
Christian Stangl: ist auch unabhängig vom Basecamp als Bergführer buchbar; er begleitet auch Einzelpersonen zum Klettern auf Auslandsreisen, wie etwa nach Nordkorea. www.skyrunning.at
Erschienen in der NZZ am Sonntag, 10. Februar 2019